Dass es unsere Volksvertreter mit dem Grundgesetz nicht so genau nehmen und immer öfter auch verfassungsfeindliche Gesetze durchwinken, ist so nicht neu. Dass sie es allerdings seit geraumer Zeit mit einer verfassungswidrigen Praktik tun, hingegen schon.
In der kommenden Nacht gegen 5.35 Uhr wird ein Gesetz im Plenum des Bundestages „diskutiert“, dass „Experten“ wahlweise als „untauglich“, „katastrophal“ oder gar „in Teilen verfassungswidrig“ kritisieren.
Der Clou dieser „Diskussion“ – sie findet gar nicht statt, denn die Abgeordneten schlafen um diese Zeit ihren Rausch aus, den sie sich ab 19 Uhr beim Sommerfest der „Parlamentarischen Gesellschaft“ angetrunken haben. Ab 5.35 Uhr diskutieren im dunklen Bundestag die Weingeister unserer Volksvertreter[1]. Das Gesetz tritt trotzdem in Kraft.
Möglich wird diese entlarvende Arbeitsweise durch eine stillschweigende Übereinkunft der parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen Redebeiträge von Abgeordneten nicht zu halten, sondern zu „Protokoll“ zu geben, obwohl diese Reglung bis heute durch keine Geschäftsordnung sanktioniert ist.
Man könnte nun versucht sein, gegen die Verlotterung demokratischer Sitten und Gebräuche zu wettern oder sich über die Arroganz der Macht zu ereifern, aber diese Kritik träfe nicht den Kern des Phänomens. Die Ursache liegt tiefer und sie heißt Demokratie.
Die Chefs der Fraktionen wissen, dass es keinen Unterschied macht, ob sich die Abgeordneten in den Sesseln des Bundestages langweilen oder ob man auf Reden oder Lesungen gleich ganz verzichtet, respektive sie „zu Protokoll“ gibt. Wen es interessiert, was er da beschlossen hat, der kann die Beiträge im Archiv nachlesen. Ich wette, dass kaum ein Volksvertreter sich die Mühe macht. Warum auch, die meisten verstehen sowieso nicht, was in Protokollen steht, und heben die Hand aus Fraktionsdisziplin. Demokratische Gremien sind mit der Dynamik komplexer Gesellschaften schlicht überfordert.
Die Entscheidungen fallen längst nicht mehr im Plenum des Bundestages und die Zeiten feuriger Debatten sind längst vorbei, wenn es sie denn je gegeben hat. Es sind die „Experten“ und Lobbyisten, die sich in den Beratungen der Fachausschüsse tummeln, die die Themen und den Takt vorgeben mit denen Gesetzesinitiativen beschlossen werden. Von Brüssel ganz zu schweigen.
Der deutsche Parlamentarismus, das zeigt die die nächtliche Geisterdebatte, ist nicht einmal mehr eine notorische Schwatzbude, sondern nur noch eine mühsam erhaltene Legitimitätsfassade, hinter der die wahren Machtverhältnisse versteckt werden.
[1] WELT-ONLINE; Heute kungelt der Bundestag verfassungswidrig