Die Wiederkehr der Geschichte
Sie haben heute so viel über den Konservativismus gehört und so etwas Vergnügliches wie das Referat von Herrn Seubert, daß ich eigentlich Mühe hätte, wenn ich versuchen würde, dem noch meinen Senf hinzuzufügen. Aber für die, die noch nicht hundertprozentig befriedigt sind – das sollte eigentlich keiner von Ihnen sein – denen empfehle ich die Lektüre des Buches „Konservativer Gedanke im Kontext der Moderne“. Da können Sie dann auch noch einiges nachlesen.
Herr Seubert hat dankenswerterweise mit rühmenden Epitheta, wie es seinem wohlwollenden und freundlichen Herzen gemäß ist, auf das Buch hingewiesen.
Nein, meine Damen und Herren, was hier vor-liegt, ist gar nichts Philosophisches und gar nichts Theoretisches, sondern ist das, was man vielleicht eine reale Analyse der gegenwärtigen Situation nennen kann.
„Wiederkehr der Geschichte“ – was heißt das? Welche Geschichte kehrt wieder? Wie kehrt sie wieder? Was bedeutet das?
Und dazu will ich Ihnen einige Zeilen am Beginn vorlesen. Da heißt es:
„Dann wollen wir, daß die Fahne des Islams wieder über diesen Landschaften weht, die das Glück hatten, eine Zeitlang unter der Herrschaft des Islams zu sein und den Ruf des Muezzins Gott preisen zu hören. Dann starb das Licht des Islams aus, und sie kehrten zum Unglauben zurück. Andalusien, Sizilien, der Balkan, Süditalien und die griechischen Inseln sind alle islamische Kolonien, die in den Schoß des Islams zurückkehren müssen. Das Mittelmeer und das Rote Meer sollen wieder islamische Binnenmeere werden wie früher.“
Das ist die Äußerung der muslimischen Bruderschaft, die eine große Rolle in Ägypten spielt und im Falle einer Wahl durchaus große Chancen hätte, dort die Regierung zu übernehmen. Übrigens gibt es viele intellektuelle Vertreter dieser muslimischen Bruderschaft, die in den westlichen Medien auftreten und sich allgemeiner Zustimmung erfreuen.
Vor einigen Tagen, in einem Bericht über Spanien, da wurde berichtet, daß alle die ehemals vom Islam in Italien besetzten Gebiete inzwischen mit den Geldern arabischer Ölstaaten aufgekauft worden sind, ganze Reihen von Villen und zahllose Moscheen errichtet wurden, und ein Islamist verkündete: Wir sind hier um zu lernen, aber wir sind auch hier um zu lehren.
Es ist der Wille Allahs, daß wir hier sind.
Meine Damen und Herren, das ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen. Und wenn einer noch Schwierigkeiten damit hatte, den Charakter dieser Herausforderung zu erkennen, dann hat die wiedergekehrte Geschichte uns in den letzten Tagen ja einen entsprechen-den Anschauungsunterricht vermittelt.
Da tritt der römische Papst, Papst Benedikt XVI., aus seiner Rolle als Papst bewußt heraus-tretend und wieder die Rolle des ehemaligen Universitätsprofessors für Dogmen und Dogmengeschichte übernehmend, in einer deutschen Universität auf und will erklären, daß der beschworene, auch von seinem Vorgänger vor-angetriebene Dialog zwischen den Religionen hierher weitergeführt einer Erklärung bedürfe. Und diese Klärung bedeutet die Klärung der Gewaltfrage. Es muß also geklärt werden, wie es der Islam mit der Gewalt hält. Das war seine Absicht. Nicht um den Dialog zu beenden, sondern um ihn auf eine realistische und wahrheitsgemäße Grundlage zu stellen. Und in diesem Zusammenhang erzählt er eine Geschichte – Sie kennen sie alle – in der sich also bezogen wird auf den Satz, daß zum Islam die Gewalt gehöre.
Und wer die heutige Frankfurter Zeitung liest, kann einen ausgezeichneten Artikel nachlesen, in dem ein Althistoriker aus Greifswald in gedrängter Weise die Kriegsgeschichte des Islams mit ihren blutigen Spuren, mit ihren Versklavungen und mit ihren Unterdrückungen als historisches Faktum darstellt.
Und die Gewalt, die uns unmittelbar bedroht, sie mag Gründe haben wie auch immer, nur: die sie begehen, sagen von sich, daß sie Anhänger des Islams sind.
Darum muß man sich eigentlich fragen, wieso der Papst, die römische Kirche, von der evangelischen ganz zu schweigen, die westliche aufgeklärte Intelligenz es bisher nicht für notwendig gehalten hatte, diese entscheidende Frage an den Islam zu stellen.
Nun, der Papst hat das getan, und die Auswirkungen, die Folgen sind bemerkenswert. Sie gleichen denjenigen im berühmten Karikaturenstreit, in Dänemark entstanden, nur mit dem Unterschied, daß diesmal auch die höchsten Gelehrten des Islamismus sich an dieser Kritik am Papst beteiligen. Es ist also nicht nur der organisierte Mob, der dagegen aufsteht, sondern es sind hohe und geistliche Würden-träger des Iran, wie zum Beispiel in der Türkei einer erklärt, daß dieser Papst zu vergleichen sei mit Mussolini und Hitler, die Muslimbruderschaft in Ägypten aufruft und sagt: „Muslime, erwacht, der Papst erklärt uns zum Feind!“
Sie empfinden es oder legen es aus als eine Feindschaftserklärung. Und wenn man die Reaktionen in manchen „liberal“ sich nennenden Organen der Bundesrepublik nachliest, falten sich die Stirnen sorgenvoll, ob der Papst nicht vielleicht doch ungeschickt gewesen wäre, ob er in der Übernahme der Rolle des Professors sein Amt vergessen hätte und ob er nicht etwas geschickter gewesen hätte sein können, hätte er nicht auch auf die Gewalt in der Geschichte des Christentums hinweisen müssen.
Fest steht die Furcht, daß dieses freie Wort an einer deutschen Universität die Folgen haben kann, daß der Terror, der Selbstmörderterror mehr zuschlagen könnte als er es ohnehin getan hätte, wenn auch der Papst diese Geschichte aus dem 14. Jahrhundert nicht erzählt hätte.
Meine Damen und Herren, was bedeutet das? Das bedeutet, daß der Islam, ganz gleich, um welche Kräfte es sich handelt, entschlossen ist, der westlichen Welt, Europa, vorzuschreiben, zu diktieren, wie sie über den Islam denken und sprechen darf. Das heißt, sie wollen ihre Sprachregelung verbindlich für die westliche Welt durchsetzen und sind entschlossen, wenn eine Mißachtung zu beobachten ist, wie man das schon einmal mit Erfolg getan hat, darauf zu reagieren.
Warum erwähne ich das? Das erwähne ich nicht nur, weil immer kommentiert wird, daß das natürlich eine Herausforderung ist, die die aufgeklärte westliche Welt, die sich ja aufgeklärt dünkt, mitten ins Herz trifft, sondern es ist eine Herausforderung, die die westliche Zivilisation im Ganzen trifft. Das, was der Islam in seiner bisherigen Erscheinungsform und Strategie erkennen läßt, ist eine Herausforderung an die geistigen, religiösen Grundlagen Europas, die an Radikalität und Massivität nicht hinter den Herausforderungen zurückbleibt, die durch den Bolschewismus und den Nationalsozialismus als Infragestellung gestellt worden sind.
Und die Frage, ob wir darauf eine Antwort finden, ist das große Thema der wiedergekehrten Geschichte. Es wird nicht nur das Thema von heute und morgen sein, sondern es wird uns das ganze Jahrhundert beschäftigen. Es wäre völlig falsch, an historisch vergleichbare Mo-delle zu denken, sondern hier haben wir eine neue Geschichtsepoche, die sich grundstürzend zu der des sogenannten christlich-europäischen Abendlandes in ihrem fast uneingeschränkten Entschluß erreichter Welthegemonie verhält.
Und nun kann man sagen, wieso wiedergekehrte Geschichte? Ist das nicht der Fortgang der Geschichte? War das nicht zu erwarten? Wir waren ja, als wir in der Mitte der Kulturrevolution der 68-er waren, davon überzeugt, daß die Kernfrage des neuen Jahrhunderts die Politökonomie sei und daß sich die westliche Intelligenz fast übereinstimmend darauf geeinigt hat, diesen zu erwartenden und auch bereits sich vollziehenden geschichtlichen Vorgang in den Kategorien im weitesten Sinne der Sozialwissenschaften, der Soziologie, der Ökonomie und aller der modernen funktionalen Strukturen und funktionalen strukturellen Theorien zu akzeptieren.
Und nun tritt etwas auf, was man durchaus eigentlich schon vor 20 Jahren hätte begreifen können. Und selbst wenn Sie es mir als Selbstgefälligkeit auslegen, tu ich’s trotzdem! Ich habe auf dem Höhepunkt der studentischen Kulturrevolution gesagt, daß das neue Thema des neuen Jahrhunderts, in dem wir uns befinden, die Religion sein wird. Die Religion wird nicht nur in der Politik sein, sondern sie wird ein neuer weltpolitischer Faktor. Die Frage ist: Wie war es möglich, das vor 20 Jahren zu sagen und subjektiv überzeugt mit dem Anspruch, da etwas erkannt zu haben, überhaupt etwas er-kennen zu können? Die Antwort ist, und darum muß ich doch noch einmal auf die dieser Situation vorausgehende Lage zurückgehen, daß zwei Dinge absehbar waren: daß der Systemkonflikt des sogenannten „Kalten Krieges“, die Auseinandersetzung zwischen der westlichen und der sozialistisch-kommunistischen Welt, daß diese beiden Modelle von unterschiedlichen Voraussetzungen mit unterschiedlichen Methoden, aber an den gleichen Zielen orientiert und von ihnen inspiriert, festhielten und sich darauf zubewegten, nämlich das Ziel: die Geschichte zu beenden.
Für den Marxismus ist es relativ leicht nachzuweisen.
Der Kernsatz, so habe ich es empfunden, des ganzen Marxismus und der Schlüssel, ihn zu begreifen, lautet bei Marx: Das Rätsel der Geschichte ist gelöst. Das heißt, wir treten, wie er es dachte, aus der Vorgeschichte, aber die Vorgeschichte ist die einzige Geschichte, die wir kennen, heraus wie aus einem dunklen Tunnel, und vor uns liegt das Lichtreich der sich im Namen und im Prinzip des Sozialismus organisierenden und vereinigenden Menschheit, die nach den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit alle in ihren Bedürfnissen, soweit die Mittel dazu vorhanden waren, zu befriedigen gedachte. Das endgültige Heilsziel, das innerste Säkulare, fast latent seit Descartes, die ganze Neuzeit bestimmende Heilsziel, schien – und davon war Marx überzeugt – zum Greifen nahe zu sein. Denn er hatte den Hebel gefunden. Das sind nicht die Theorien wie beim Klassenkampf. Große Teile nicht seiner Kapitalismuskritik. Das haben bürgerliche Theoretiker auch alles gewußt! Sondern das Entscheidende war: Er hat den Hebel gefunden. Nämlich: die Vergesellschaftung des Privateigentums. Durch die Revolution des Proletariats wird der Austritt aus der ganzen bisherigen Geschichte ihr Ende sein.
Das ist das eine Modell, das ist die eine Form. Nun, das war vor 20 Jahren absehbar, daß diese, wie wir es nennen, Utopie, dieser Traum von einem Endreich der Geschichte, säkularen Endreich der Geschichte, immer messianisch getönt, man kann bis auf eine häretische Transformation des Propheten des Alten Testamentes zurückführen, daß diesem Modell die Grundlagen durch den Versuch der praktischen Verwirklichung längst entzogen waren. Alle, die wußten, wußten längst, daß das Ende des Kommunismus eine Sache von 10 bis 15 Jahren sein wird. Der Bundeskanzler Kohl, mit großer geschichtlicher Intuition begabter Politiker, sagte: frühestens in 100 Jahren.
Und die Systemtheoretiker vertrauten der Konvergenztheorie und sagten: die entwickeln sich, die beiden Systeme, so aufeinander zu, daß sich die Gegensätze so abschleifen und auflösen.
Das heißt, nicht nur die kommunistische Gewalt drängt zum Ende der Geschichte hin, sondern die Tendenzen der Geschichte selber wollen und scheinen dahin zu drängen – übrigens ein vorrationaler Grundglaube, der von jedem progressiven und sich progressiv artikulieren-den Intellektuellen und Politiker bis heute auch in Deutschland unverändert und ungebrochen geglaubt wird.
Auch bei ganzen Transformationen des Marxismus hat sich da nichts geändert. Und wie sah die Endreichpraxis der Beendigung der Geschichte des westlichen Modells aus?
Da kann ich mich beziehen auf Fukuyama, der damals, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, ein Buch veröffentlichte unter dem Titel: „Das Ende der Geschichte“. Und was meinte Fukuyama damals?
Vielleicht ist es nützlich, sich das noch einmal in Erinnerung zu rufen. Er meinte nämlich, daß nunmehr endgültig das privatkapitalistische, liberale, rechtsstaatliche, pluralistische gesellschaftliche System sich als alternativlos erwiesen und durchgesetzt hätte. Er war durchaus der Meinung, da kann es Stagnation geben; aber an der Alternativlosigkeit dieses Modells hatte Fukuyama damals keinen Zweifel.
Und das Buch hat große Verbreitung und Zustimmung damals gefunden. Bis zu dem Punkt hin, an dem der Vater Bush, und das ist ein wichtiger Zeitpunkt, innehielt vor den Toren von Bagdad im ersten Irakkrieg und darauf verzichtete, den Irak einzunehmen, zu okkupieren und Saddam zu stürzen. Und die Frage ist: Warum hat er das damals nicht getan – was sein Sohn ja nachher versucht hat nachzuholen. Er hat es nicht getan, weil er wußte, daß dies zum Zusammenbruch des Irak und zu einem Bürgerkrieg führen würde, und die Folge dieses Bürgerkrieges die Etablierung des Irans als Hegemonialmacht des Mittleren und Vorderen Ostens zur Folge haben würde.
Das heißt, diese beiden Modelle, sowohl das westliche wie das östliche, waren inspiriert auf die Herbeiführung des Endes der Geschichte. Natürlich liegt einem solchen Entwurf, einer solchen Vorstellung, die Geschichte zu beendigen, sie der eigenen Interpretation nach voll-enden, beenden, ein bestimmter Entwurf von Geschichte vor. Es war davon die Rede.
Herr Seubert hat das schöne Beispiel vom „Labor“ gebraucht, in dem man die Geschichte konstruiert in ihrem zukünftigen Ablauf, sie plant und dann glaubt, man könne sie auf das planend, konstruierend vorausgeworfene Ziel und Zustand steuernd und dirigierend hinführen.
Das heißt, der Grundglaube ist der Glaube an die Machbarkeit der Geschichte. Der Glaube, man könne die von der Menschheit errungene Herrschaft über die Natur durch die modernen Naturwissenschaften fortführen – durch eine Art Herrschaft der Sozialwissenschaften über gesellschaftliche, geschichtliche Abläufe.
„Machbarkeit der Geschichte“, meine Damen und Herren, wie verhält sich die machbar gedachte Geschichte zur wirklichen Geschichte? Warum plötzlich diese Obsession, mit der man meinte, herstellen, fabrizieren, produzieren zu können das Ende der Welt?
Es gibt eine Antwort bei dem französischen konservativen Sozialisten – wenn man diesen paradoxen Begriff gebrauchen kann – Proudhon, der sagt: Das Thema ist die Defatalisierung der Geschichte.
Meine Damen und Herren, das ist ein Schlüsselwort.
„Defatalisierung der Geschichte“ heißt, daß die Geschichte ihres schicksalhaften Charakters und letztlich ihrer Kontingenz befreit und enthoben werden soll. Der Mensch sollte in einen Geschichtsabschnitt eintreten können, in dem er sich nicht mehr vorfinden muß als einer in einem von geschichtlichen Verhängnissen, von Schicksalsschlägen ereilten, in seinen Plänen zerstörten, zu Boden getreten, sondern er sollte durch die gelungene Defatalisierung der Geschichte den Grund der Aufklärung, die Verwirklichung des autonomen, des sich uneingeschränkt über sich selbst verfügenden, sich selbst besitzenden, selbstmächtigen Individuums setzen können, das die Kontrolle über die Konvergenz erreicht hat.
Das heißt also, der Kampf um die Durchsetzung eines Entwurfs auf das Ende der Geschichte war ein Prozeß der Vernichtung der Geschichte. Es war nicht ein Prozeß, sozusagen, aus der Geschichte heraus; wenn heute die Konservativen immer wieder klagen und beklagen, daß uns das historische Gedächtnis abhanden kommt, daß wir kein Geschichtsverständnis, eigentlich auch keinen Geschichtsbezug haben, liegt das nicht nur in der progressiven Ideologie begründet – auch, aber es ist begründet in dem tiefer liegenden, quasi religiösen, Glauben an die Machbarkeit und die Herstellbarkeit der Geschichte.
Das heißt, es liegt im Ganzen ein Vertrauen zugrunde. Und zwar das Vertrauen in die unendlichen Möglichkeiten des Menschen. Der Mensch, der kann das. Das, was ihn bisher gehindert hat zu können und zu werden, was er kann, ist die Geschichte gewesen, die dann unter dem Aspekt der machbaren Geschichte als heteronome, den Autonomieanspruch begrenzende oder sogar vernichtende Gewalt, eben als Schicksal interpretiert werden soll.
Ich erwähne das alles nicht, weil die Zeit nicht ausreicht, das zu erläutern, nur um deutlich zu machen, daß die Behelfsinterpretation der Moderne als ein Prozeß der Säkularisierung, das heißt also, des Vormarschs in die Religionslosigkeit – wenn man genauer hinsieht – ein Irrtum ist. Auch die Moderne ist, nennen wir es so, quasi religiöser Glaube, von einer eigenen Religion stimuliert und getragen worden, und sie hat lange Sedimentierungen, Ablagerungen, Uminterpretation ihrer Herkunftsreligion zur Auslegung des Neugemeinten in Anspruch genommen, und der Zustand des Christentums in dieser Kirche, in dieser Gesellschaft ist, daß wir zwar eine ihres öffentlichen Autoritäts- und Geltungsanspruchs völlig beraubte christliche Religion haben – aber daraus zu schließen, daß die Gesellschaft selber religionslos sei, ist ein Irrtum, sondern sie ist voller, quasi religiöser, Aspirationen und Sehnsüchte.
Und die neue Religion der Deutschen ist die Religion der Menschenrechte. Das ist nicht eine Doktrin, nicht ein Prinzip, sondern die Menschenrechte in liberaler Interpretation werden heute so durchgesetzt und exekutiert mit ver-gleichbaren, fast gleichen Mitteln und Methoden wie die Aufklärung meinte, das kirchlich-christliche Zeitalter kritisieren zu müssen.
Da ist in der Methodik und der Durchsetzung und der Sensorierung und dem Kampf gegen den abweichenden freien Gedanken inzwischen kaum noch eine Differenz festzustellen – wenn sie denn überhaupt für das christlich bestimmte Zeitalter beträchtlich ist.
Das heißt, wir befinden uns über uns selbst eigentlich in einer Art Schleier und in einer Art Nebel. Und nun ist dieser Prozeß gekommen an einen neuen, entscheidenden Punkt. Auch hier will ich es nur eigentlich verkürzt thesenhaft formulieren: daß der Anspruch, durch den Auf-stand der 68er, das von ihnen damals empfundene geistig-kulturelle Vakuum durch eine neue Art von Kultur, die die Zerschlagung der bürgerlichen zur Voraussetzung hatte, zu er-setzen in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum von eigentlich nicht mehr als 20, 30 Jahren in ein neues Vakuum hineingeführt hat. Ein Vakuum, das aufgrund des Abbruchs der Geschichte und der Kontinuität viel gefährlicher und viel brisanter ist als das Vakuum, das wir auf dem Höhepunkt des sogenannten Wirtschaftswunders meinten, entdecken zu können. Denn da gab es viele Anschlußlinien und – punkte an geschichtlich Verlassenes und Vergessenes, was man hätte hervorrufen müssen. Und nun ist die entscheidende Frage, meine Damen und Herren, ob es noch überhaupt, und da ist vielleicht die Bundesrepublik den anderen Ländern des Westens voraus, ob sie noch die Substanz findet und die Kraft hat, dieses Vakuum so zu füllen, daß sie in der Lage ist, auf die neue weltpolitische und weltgeschichtliche Lage und ihre Herausforderung zu antworten.
Und wir erleben nun etwas Erstaunliches: daß überall Dinge passieren, an die vor drei Jahren, vier Jahren überhaupt nicht zu denken war. Denn aus dem Gefühl der Leere und Gefährdung, das nun die 68er geschaffen und hinter-lassen haben, tasten sich die Deutschen zurück an Vergessenes, Verlassenes, „horribile dicto“, lieber Herr Seubert, nach Konservativem.
Das Bedürfnis nach konservativen Haltepunkten, nach konservativer Autorität, nach Wiederbelebung des Nationalen, meine Damen und Herren, wo finden Sie das?
Das finden Sie doch nicht bei der CDU, das finden Sie im „Spiegel“! Nicht, der „Spiegel“ hat den Kulturredakteur, der werbend durchs Land zieht: „Ihr habt allen Grund, Deutschland zu lieben!“
Sie finden es nicht bei der CDU, Sie finden es in der „Bild-Zeitung“ – den ganzseitigen Artikel des ehemaligen Direktors von Salem, Bueb, der sagt: Ohne Autorität und Disziplin kann keiner erzogen werden, meine Damen und Herren.
Im Volk der Dichter und Denker erreicht das Land eine neue und frohe Botschaft: Man muß erziehen und kann nicht erziehen ohne Disziplin und ohne Autorität.
Und nun taucht noch dieses liebe Mädchen Eva Herman auf und schreibt ein Büchlein über das Eva-Prinzip und schaut auf ihr Leben zurück! Viermal verheiratet. Ihr Leben ist nicht so verlaufen, wie sie dachte. „Ich hab doch alles falsch gemacht! Ich hätte doch zu Hause bleiben sollen und hätte Kinder hervorbringen müssen und das Haus zur geborgenen Stätte des im fremden Leben tätigen Mannes machen müssen!
Das wäre doch das Glück gewesen! Und nun habe ich das, verführt durch den emanzipatorischen Feminismus, verspielt.“
Und aus ihrer Sympathie heraus, meine Damen und Herren, mit den vielen Müttern, die im Hause, in den deutschen Häusern, sitzen, tritt sie nun in die Arena und verkündet ihre neue Botschaft, die natürlich banal ist. Aber die elementaren Lebensinhalte sind alle banal!
Sie können als Philosoph nur irren, lieber Herr Seubert, ich meine nicht Sie, sondern rundum, wenn Sie nicht den Mut zur Banalität haben. Sie müssen den Mut haben, auch Banales aus-sprechen zu können. Ich habe viele Jahre gebraucht, bis ich das gelernt habe. Inzwischen klappt das schon ganz gut.
Das heißt also, der Konservativismus wäre eine hoffnungslose Angelegenheit, wenn man ihn als Postulat dem herrschenden Trend, dem vermeintlichen, entgegensetzen würde. Er wäre hoffnungslos, wenn er sich gar nostalgisch daran orientieren würde, Verlassenes, Traditionelles wieder herzustellen, sondern das, was Weikersheim von der neuen Rechten unter-scheiden muß – und, Herr Seubert, Sie haben schon darauf hingewiesen – daß es zwei verschiedene Dinge sind: Entweder das Rechte als Gegenentwurf gegen eine angeblich der Linksliberalität und Verführung verfallenden Gesellschaft entgegenzusetzen und dann mit Herrn Weißmann eine Revolution von rechts mit linken Mitteln zu fordern, Das ist Scheiße!
Nicht, verstehen Sie. Das ist einer ernsthaften Diskussion nicht mehr würdig. Und zwar darum nicht würdig, weil es nicht in der Lage ist zu begreifen, was heute ist und wie fundamental sich die Bedingungen gegenüber der 20er Jahre geändert haben.
Ich habe mich so drastisch ausgedrückt, damit diese Diskussion endlich einmal beendet wird.
Wir müssen wissen, wenn Konservative, auch junge, in Weikersheim wandeln – was die wollen, und müssen erkennen, was die andern wollen und was sie unterscheidet.
Das heißt also, der Konservativismus muß denn entwickelt werden als eine Konsequenz des begriffenen, weltgeschichtlichen Umbruchs, an dem wir uns gegenwärtig mitten befinden.
Und ich darf vielleicht damit schließen, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß diese Neuorientierung, Neuausdruck, nach dem, was hier konservativ gilt, in unterschiedlicher Weise bei den großen Mächten dieser Welt längst im Gange ist.
Man kann natürlich die radikalste Kritik an Bush üben. Man kann diese amerikanische Politik für verhängnisvoll halten. Sie wird ja auch wahrscheinlich eher zum Gegenteil dessen führen, was sie ursprünglich gewollt hat. Nur, man darf nicht über die Fixierung auf Bush vergessen, zur Kenntnis zu nehmen, was sich in Amerika vollzogen hat. Denn das ist nicht weniger als eine christliche Kulturrevolution. Die Bewegung der „re-born-christ-Bewegung“, die Bush zum Präsidenten gemacht hat, zu der sich bald 50 Prozent der Amerikaner bekennen. Also eine biblisch-christlich-fundamentalistische, eine nationale, kulturelle Bewegung, die sich zum Dekadenzliberalismus wie eine Revolution verhält – ist ein grundlegend verändertes Amerika.
Es wäre verhängnisvoll, wenn wir uns weiter an den traditionellen Bildern Amerikas orientieren, so wie Dahrendorf vor 30 Jahren ein Buch geschrieben hat über Amerika:
„Die vollendete Aufklärung“.
Dieses Land ist nicht die vollendete Aufklärung, sondern es ist ein Land, das zu seinen eigenen nationalen und christlichen Mythen und Wurzeln wieder zurückfindet und wenn auch vielleicht kurzsichtig und blind, aber entschlossen ist, den mit der Wiederkehr des Islams in die Geschichte verbundenen Anspruch, eine absolute Gotteswahrheit durchsetzen zu müssen, diesen Anspruch ernst zu nehmen und ihm einen eigenen , wenn auch noch von uns so kritisierbaren biblisch-fundamentalistischen entgegenzusetzen.
Nicht, inzwischen nimmt bei uns der Anti-Amerikanismus die Rolle ein, die der Anti-Kommunismus im Kalten Krieg eingenommen hat. Das hat natürlich seinen Grund, was zurecht empfunden wird, da Bush mit seiner Politik die moralische Dimension seiner Außenpolitik beschädigt, wenn nicht zerstört hat.
Amerika war immer eine imperialistische Macht. Seit 200 Jahren, seit der Monroe-Doktrin, beginnt der expansive Imperialismus der Vereinigten Staaten. Nur, zu diesem Imperialismus kam immer eine moralische Begründung, die gerichtet war letzten Endes auf die Befreiung und Erlösung der Welt. Und zwar da-durch, daß, wenn alle nach dem „american way of life“ leben, ist, dann haben sie das Klassen-ziel der Geschichte erreicht. Und das Unglück der Amerikaner ist, daß sie nichts von anderen Völkern, Kulturen, geschweige denn von anderen Religionen, verstehen. Alle ihre außenpolitischen Versagen sind darauf zurückzuführen. Und wenn es noch die Geisteswissenschaften in Deutschland in der Blüte gäbe, die es einmal gab, könnten sie doch eine ganz wichtige Rolle spielen, denn das war die große, auch politische, Mission der deutschen Geisteswissenschaften, ein Verständnis für fremde Kulturen und Völker entwickelt zu haben, wie das in keinem anderen Land der Welt der Fall war.
Aber man wird, meine Damen und Herren, in Amerika eine konvergertive revolutionäre Verwandlung feststellen können, die noch ver-schärft wird durch das zweite Buch, auf das ich hinweisen will – nämlich das von Huntington, der zwei Bücher geschrieben hat.
Das erste Buch „The Clash of Civilizations“, das begriffen hat, daß nach dem Verfall der Ideologien und der Utopien die Welt sich polar, multipolar, ordnen wird nach einem neuen Prinzip. Und dieses Prinzip ist die Kultur, und die innerste Mobilisierungskraft der Kultur ist die Religion.
Und darum sieht Huntington oder sah er die Welt sich nach diesem neuen Prinzip neu ordnen.
Keine homogene, einzig einfache Weltordnung nach einem Prinzip, sondern die Vielfalt der durch die unterschiedlichen Religionen bestimmten Kulturräume, drei, vier oder fünf oder sechs, sieben – ist ja ganz egal, auf der anderen Seite.
Und das zweite Buch, das er geschrieben hat, gilt der amerikanischen Identität. Das heißt, er sieht den Verlust der Identität des Weißen Amerikas durch den Prozeß der Hispanisierung.
Er sieht also auch für Amerika große und schwere Kulturkonflikte voraus und ist zurecht der Meinung, daß die Rolle, die Amerika allein zu spielen in der Lage ist, bei der Herausfindung einer noch so notdürftigen Neuordnung der Welt nicht spielen kann wenn diese westliche, calvinistisch-protestantische weiße Identität in Amerika verloren geht.
Also auch hier wird in Amerika in anderer Form um das gekämpft, was überhaupt heute überall oder manifest auf der Tagesordnung der Geschichte ist.
Ich hatte vor zwei Tagen Gelegenheit, mich lange zu unterhalten mit dem Deutschlandexperten Rußlands, dem Berater von Putin, in Fragen der Deutschlandpolitik, Professor Daschitschew. Der sagte: Was sind unsere Grundlagen? Unser Versuch ist, Rußland wie-der aufzubauen auf die drei Säulen: Tradition, Nation und Religion. Das heißt, unser Rußland wird, wenn das gelingen sollte, das einzige wirkliche konservative Land in Europa sein.
Wir brauchen nicht nur russisches Öl, sondern wir brauchen diesen russischen Konservativismus als Gegengewicht gegen die liberale Dekadenz, die sich bei uns ausbreitet.
Ich will nicht darüber frohlocken, daß sie den Hauptvertreter des deutschen Schwulentums in Moskau ins Gesicht geschlagen haben, aber ich bin sicher, daß durch diesen Vorgang Rußland neue Freunde, wenn nicht 10, dann 100 000 dazugewonnen hat.
Wir sind durch den seltenen Anblick konfrontiert worden – hier ist ein Land, das sagt schlicht: Wir wollen das nicht.
Meine Damen und Herren, die diskutieren nicht über unendliche Gesichtspunkte, die da-für oder dagegen sind. Sie sagen: Wir wollen es nicht. Und sie handeln danach.
Und das Volk macht Front auf den Straßen. Und wenn wir uns die Entwicklung in China ansehen, meine Damen und Herren, dann ist der Marxismus, soweit er überhaupt noch vorhanden ist, sehr oberflächlich. Wir sehen, daß China vor einem Grundproblem unserer eigenen neuzeitlich europäischen Welt steht, nämlich, schlicht gesagt: Wie kann ich den technisch-wissenschaftlich-industriellen Fort-schritt versöhnen mit der Tradition?
Das heißt: Wie kann das in Bayern so bewährte Prinzip der Versöhnung zwischen Fortschritt und Tradition, wie kann ich das auf China transferieren? Und da ist dann in der Tat nicht Kant der inspirierende Philosoph, sondern kein geringerer als Hegel.
Denn genau das ist das Hegelsche Problem.
In China, an der Pekinger Universität, befassen sich 360 Gelehrte mit deutschem Idealismus. Die übersetzen die „Phänomenologie des Geistes“ ins Chinesische. Das heißt, auch hier wird geahnt, daß mit dem Zusammenbruch der Glaubensgrundlage des Fortschritts das Vakuum nur gefüllt werden kann durch eine Anstrengung der Vergegenwärtigung, Revitalisierung des eigenen Erbes und des eigenen Ursprungs. Und wenn man es noch übertreiben will, dann muß man sagen, daß die Renaissance des Islams, die Rückkehr des Islams also in die Weltgeschichte, jetzt die Erfahrung zugrunde liegen hat: Wir möchten gerne an dem technisch-wissenschaftlichen und ökologischen Fortschritt des Westens teilhaben. So doof sind auch die Araber nicht, daß sie das nicht wollen. Aber sie sagen: Wir wollen die westliche Dekadenz nicht. Denn die würde uns in unserer kulturellen Identität vernichten. Und daraus formiert sich nun im Rückgriff auf das Eigene und das Ursprüngliche der Wider-stand in den extremen Ausformungen gegen den Westen insgesamt.
Einer der theoretischen Erfinder des Selbstmordterrorismus war in Amerika und ist unter dem dortigen Eindruck der Dekadenz zum fundamentalistischen Islamisten geworden und hat formuliert den Kampf gegen den Antisemitismus, den Kampf gegen das Christentum, den Kampf gegen die ganze westliche Welt.
Meine Damen und Herren, „Wiederkehr der Geschichte“ bedeutet, daß die Vorstellung, daß die Geschichtskonstellation in den 20er Jahren in Deutschland, die zur Herrschaft des Nationalsozialismus geführt hat, eine vergangene ist oder vielleicht durch Vergangenheitsbewältigungsarbeit erledigte, auch eine Illusion ist.
Ich behaupte einmal, um Sie auch ein bißchen zu provozieren: Die Konstellation der 20er Jahre in Deutschland kehrt heute in banalplanetarem Umfang wieder. Die ganzen Topoi des Hitlerismus, Antisemitismus, Kapitalismus, Dollar-Imperialismus, westlicher Zivilisation, Christentum rückgängig machen, also der ganzen europäischen Zivilisation und Fortschrittsgeschichte, die Erklärung dieses Teils zum Feind, ist eine weltweite Wiederkehr einer unbewältigten geschichtlichen Situation, meine Damen und Herren.
Hegel hat zwar gesagt: Man lernt aus der Geschichte, daß man aus der Geschichte nichts lernt.
Ich kann nur sagen, unser Unglück ist, daß wir aus der Geschichte nichts gelernt haben. Aber Hegel hat auch hinzugefügt, daß die Geschichte die Eigenheit hat, repetiert zu werden, so lange, bis die Lektion begriffen wird. Und ich fürchte, daß die neue wieder-gekehrte Geschichte nur dem Schein nach eine Wiederkehr ist, sondern daß es die alte, mit der ganzen Last der unbewältigten Probleme der Geschichte ist, von der wir glaubten, wir hätten sie hinter uns gelassen. Sie kommt völlig neu auf uns zu, und das reicht natürlich an die Wurzeln der ganzen geistigen Existenz dieses Landes und dieses Volkes, meine Damen und Herren.
Ob es in der Lage ist, das zu erkennen und zu begreifen, daß ich mit einer bestimmten Universalmoral und mit der Wertedebatte dieser Herausforderung nicht standhalten werde, meine Damen und Herren, ist die Herausforderung des Westens.
Was ist der unaufgebbare Kern, aus dem der Westen entstanden ist und gelebt hat und der bei allen zahlreichen zusätzlichen Traditionen und Einflüssen der entscheidende ist?
Unsere Antwort lautet: Die Aufklärung. Zwei-fellos. Die Aufklärung bindet und verbindet alle Europäer. Das ist ein europäisches Ereignis, das seit 200 Jahren den Gang der Dinge bestimmt. Aber die gleiche universale Kraft und Gültigkeit wie die Aufklärung hat das Christentum. Und ohne das Christentum hätte es diese Aufklärung nie gegeben.
Und das Kernproblem, meine Damen und Herren, besteht doch darin, daß die totalitären Experimente des 20. Jahrhunderts, die zur Selbstvernichtung unserer Kultur geführt haben, vor den 68ern schon, die Folge sind einer Aufklärung, die sich von ihrer eigenen christlichen Bedingung und Erbe abgekoppelt hat Das könnte man wunderbar mit der Frankfurter Theorie der Dialektik der Aufklärung sogar bezeichnen, das heißt, wer dieses Erbe und das damit verbundene Autoritätsfeld vernichtet, vernichtet die Aufklärung selber, meine Damen und Herren.
Und das ist ein großer Augenblick, daß wir in diesem deutschen Papst nun einen Sprecher nicht nur der katholischen Kirche, sondern der Christenheit haben, der das begriffen hat und der westlichen Welt durch seine Auslegung des Christentums das Angebot macht, nicht gegen die Aufklärung zu kämpfen, sondern die Aufklärung zu retten, indem sie das in sich bejahend wieder aufnimmt, was ihre eigene Voraussetzung ist, meine Damen und Herren.
Und der Ausgang des geschichtlichen Experimentes, des neuen Äons, wird davon abhängen, ob wir das begreifen oder nicht.
Und die heute so in die Ecke gestellte, mißachtete, verschmähte Philosophie spielt wie in allen großen Krisenlagen der europäischen Geschichte eine entscheidende Rolle.
Die Krise der Polis wäre ohne die Philosophie nicht überwunden worden. Die Krise des frühen Christentums und seines inneren Drucks durch die Gnosis wäre ohne Platons Philosophie durch Augustin nicht überwunden worden. Das ist die Wahrheit seiner theologischen Interpretation. Und die Auflösung der Einheitswelt des Mittelalters wäre nicht überwunden worden ohne den theologischen Neuansatz der Reformation. Und die Französische Revolution würde uns so beherrschen, ohne daß wir die Kategorien hätten, sie selber zum Gegenstand einer kritischen Reflexion zu machen, das heißt, über die Aufklärung selber aufzuklären, was notwendig ist, wenn sie sich in einer solchen Krise befindet wie heute – wäre nicht möglich ohne die welthistorische Leistung des deutschen Idealismus.
Und wenn wir die 20er Jahre hindurch etwas von den deutschen Tugenden durchgehalten haben, mit denen das deutsche Wirtschafts-wunder möglich war, haben auch die großen Konservativen des 20. Jahrhunderts, die sich allerdings dem Härtetest der Moderne ausgesetzt haben, auch einen gebührenden Anteil. Und die exklusive, einzigartige Situation, in der sich Deutschland aus vielen Gründen befindet, ist, daß selbst in seiner offenen Widerlegung und seinem Verfall der Fortschritt als das einzig anerkannte, als legitimierend empfundene Prinzip sich durchgesetzt hat und der eines jeden konservativen Gegenteils, ja jeder konservativer Korrekturmöglichkeit noch entbehren muß. Wenn man das versteht, ist Konser
vativismus nicht eine Frage der Einstellung und Gesinnung oder philosophischer Vorlieben, sondern er ist ein Überlebensimperativ für Deutschland geworden.
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