Überwindung des Übermenschen

Es überrascht, mit welcher Leichtigkeit oft Ideen, denen jede wirkliche Konsistenz fehlt, Suggestionskraft gewinnen – so sehr, daß sie sich eine Art passioneller Alibis schaffen: diejenigen, die sie für wahr halten, erleben sie in einer Weise, daß sie schließlich glauben, sie durch ihre eigene Erfahrung bestätigt zu finden.

Das gilt zum Beispiel für die Evolution und den Darwinismus. Die Theorie des Menschen vom Tier und der Selektion der Arten durch Behauptung des Stärkeren gegenüber den verschiedenen Bedingungen der Umwelt, durch Anpassung und erbmäßige Übertragung der Charaktermerkmale -diesen materialistischen und antiaristokratischen Mythos der Wissenschaft von gestern erkennt bereits jeder als eine mehr als wacklige Hypothese, die ihre Zeit gehabt hat und die sich von Tag zu Tag mehr ihrer vermeintlichen „positiven“ Grundlagen beraubt sieht. Und doch bedeutete diese Theorie bis gestern für eine ganze Generation eine Offenbarung: nicht als innerhalb des rein wissenschaftlichen Gebietes zu betrachtende und zu prüfende Hypothese neben vielen andern, sondern als neue und nicht zu bezweifelnde Weltanschauung, als erleuchtende Entdeckung, als neue, ein für alle Mal vom Menschengeschlecht gewonnene Erkenntnis.

Und da finden wir eine Kunst, wie die Jack Londons, als typisches Beispiel für die erwähnten passionellen Alibis. Jack London läßt uns tatsächlich oft die Theorie der Evolution und der natürlichen Zuchtwahl zum Erlebnis werden. Grundlage seiner Allgemeinauffassung des Lebens in einer ganzen Reihe von Gestalten, Ereignissen, Beschreibungen und Episoden, erscheint sie uns als wahr, als evident. Die Suggestionskraft der Kunst stellt eine Welt als wahr vor uns hin, in der das biologische Erbe, der Selbsterhaltungstrieb und der Kampf ums Dasein tatsächlich die Leitmotive sind, in der der höchste Typus des Menschen mehr oder weniger dem Typus der wundervollen Bestie gleicht, des Tieres, das im Vollbesitz aller seiner Kräfte und Lebenstriebe über alles gesiegt, sich gegen alles durchgesetzt hat: gleichsam als die Summe einer Reihe von Erbschaften, die über die dunklen Wege des Bluts, von den Urzeiten der Wilden, der Wälder oder Eiswüsten, wenn nicht sogar vom tierhaften Vormenschentum bis zu ihm hin gelangt sind.

Nicht allzu verschieden davon ist die Atmosphäre, in der im allgemeinen der Mythos vom „Übermenschen“ Form und Leben gewann. Die Beziehung geht zum Teil auf Nietzsche zurück. Wir sagen zum Teil, weil sich Nietzsches Philosophie aus weit verschiedeneren und heterogeneren Bestandteilen zusammensetzt, als man gemeinhin annimmt. Immerhin ist nicht zu leugnen, daß der evolutionistische Aberglaube mit seinen biologischen Anhängseln sich ausgiebig auf einem Gedankengebiet Nietzsches betätigen konnte, das zwar nicht belanglos, aber natürlich das hinfälligste ist. Man darf sagen, daß, was bis gestern von Nietzsche verstanden wurde, vorwiegend auf dieses Gebiet zurückgeht, eben als auf jenes, das in unmittelbarem Zusammenhang mit den in der Zeit verbreiteten Ideen steht.

Nietzsches Theorie vom „Übermenschen“ ist ein Anhängsel des Naturalismus -und als solches ist sie etwas, was nunmehr der Vergangenheit angehört, und was, an sich genommen, das Streben der Besten der neuen Generation irreleiten könnte -insofern in ihr alles in der „Religion des Lebens“ oder, besser gesagt, in dem „Aberglauben ans Leben“ anfängt und endet. So möchten wir eine Auffassung nennen, in deren Mittelpunkt jene reine Vitalität in ihrer lediglich biologischen Bedeutung steht, die die Naturwissenschaft rein äußerlich, nach derselben Methode, welche sie auf die Materie anwendet, betrachtet, und die wiederum die „Voluntaristen“, die „Intuitionisten“ und die „Aktivisten“ als unmittelbare Empfindung, als ein unmittelbar vom Bewußtsein Gegebenes deuten. Jedenfalls aber ist ein solches nur das des tierischen, instinkthaften, vorpersönlichen Lebens, es ist die Wurzel und der tiefere Wille dessen, was in uns nur Körper und Natur ist. Nun scheinen die in Rede stehenden Auffassungen im Menschen nichts anderes sehen zu wollen, oder wenn sie etwas anderes anerkennen, so anerkennen sie es immer als untergeordnete, als abgeleitete Wirklichkeit dem „Leben“ gegenüber. Das „Ich ist für sie kein übernatürliches Prinzip, nicht Ausdruck einer anderen Wirklichkeit, sondern mehr oder weniger das Empfinden der Lebenskraft, das gemehrt oder gemindert, gestärkt oder geschwächt werden kann.

Lediglich von hier aus empfängt bis zu einem gewissen Grad der bekannte Nietzsche-Begriff der „Umwertung aller Werte“ und ebenso die daraus folgende Macht-Theorie Dasein und Bedeutung. Eine Anzahl ethischer, sozialer und religiöser Auffassungen hätten sich demnach seit Jahrhunderten gegen das „Leben“ verschworen, hätten eine unheilvolle Selektion im verkehrten Sinne begünstigt, insofern in ihnen alles das als Geist und Wert ausgegeben wurde, was den Instinkt abtötet und entmannt, was das Gefühl der Lebenskraft trübt oder herabmindert. Es sind die Werte der „Dekadenz“ und des „Ressentiments“, die die Sklaven, die Schwachen, die Enterbten, die Schlechtweggekommenen verkündeten und mit denen sie allmählich die Basis abtrugen, auf der in gesunden und starken Zeiten der Übermensch und das Recht des Übermenschen als des Herrschers fußten und triumphierten. Nietzsche ruft zum Aufstand gegen diese „Werte der Dekadenz“, er enthüllt ihr Gift und stellt als Prinzip einer neuen Wertung das Kriterium auf, daß nur das als wahr, moralisch, legitim, geistig und schön zu gelten habe, was den Lebenstrieb bejaht, den Lebenstrieb rechtfertigt, den Lebenstrieb steigert, dessen höchster Ausdruck für ihn der „Wille zur Macht“ ist; und daß alles, was vom Leben entfernt, das Leben begrenzt, das Leben verurteilt, falsch, unmoralisch, häßlich und gesetzeswidrig ist. Nietzsche verkündet eine neue Religion des Willens zur Macht als Auftakt zur Heraufkunft einer neuen Epoche des Übermenschen.
Man muß zugeben, daß Nietzsche den „Willen zur Macht“ als den Willen nicht nur zur äußeren, sondern auch zur inneren Beherrschung versteht. Der Übermensch ist nicht nur der Menschenbeherrscher, sondern auch der, welcher Instinkten, die bis zu einer elementaren, bedrohlichen Vehemenz entwickelt werden, die Fähigkeit entsprechen läßt, sie absolut zu beherrschen, aber nicht im Sinne, sie zu unterdrücken, sondern sie wie wilde Tiere an der Kette zu halten und, sobald er will, hervorbrechen zu lassen. Freilich endet im einen wie im andern Fall, oder im Herrscher über sich selbst wie im Herrscher über die andern -im hier betrachteten Teil von Nietzsches Philosophie -alles nur in einem Gefühl, einer Sensation. Der Wille zur Macht, der durch das Gute und das Böse, durch die härtesten Prüfungen und bis zu den unsinnigsten Konsequenzen, mit absoluter Unerbitterlichkeit gegenüber sich selbst und den andern entwickelt wird, hat immer nur den Wert eines gesteigerten und auf die Spitze getriebenen „Lebens“-Gefühls und eines „Ichs“, das das Bewußtsein und die Bestätigung seiner selbst aus nichts sonst als diesem wilden Gefühle gewinnt. Die Flut schwillt an, aber sie kann in nichts münden, findet keine Verklärung. Der Auftrieb ist im Grunde umsonst; die Askese ist dunkel, fast „dämonisch“, sie genießt sich selbst, ist ohne höhere Bedeutung.
Ein Kommentator Nietzsches, Georg Simmel, hat von Umständen gesprochen, in denen sich die Lebensintensität in ihrem äußersten Grade -das „Mehr-Leben“ -verwandelt und gleichsam in eine andere „Qualität“, in ein „Mehr-als-Leben“ umschlägt. Aber in der Welt dieses nietzscheschen Übermenschen fehlen die Voraussetzungen dafür, daß ein solcher Vorgang Wirklichkeit werde: es fehlt eine Idee, ein Bezugspunkt, der sozusagen zum Transformator im Stromkreis wird und dieses als „Licht“, als „Über-Leben“, d.h. als Offenbarung und Bejahung eines Übernatürlichen in Erscheinung treten läßt. Apollon, das olympische Prinzip, die olympische Überlegenheit, von Nietzsche als Symbol des Unwirklichen und Äußerlichen gedeutet, bleibt für ihn immer der Feind und die Gefahr für Dionysos, d.h. für das Leben, den unbezähmbaren Impetus des Lebens, das sich an sich selbst wendet, sich selbst bejaht und gar nicht anders sein will, als es ist, insofern ihm jedes Jenseits als Illusion und flucht von Impotenten und Kranken gilt. Der Kreis bleibt geschlossen. Und wir halten für gewiß, daß die -wenn auch unbewußte und spekulative -Heraufbeschwörung eines Lebens von höchster Höhe, dessen Intensität nur ein übernatürlicher Bezugspunkt angemessen sein konnte, und der Nichtbesitz eines solchen Bezugspunkts, so daß jene in sich selbst zurückgejagte Intensität gleichsam einen Kurzschluß bewirkte -wir halten dafür, daß eben dies die Situation war, die Nietzsche tatsächlich zu einem tragischen Ende, zum Wahnsinn geführt hat.

Wenn der „Mensch etwas ist, was überwunden werden muß“, wenn der „Mensch die Brücke ist, die vom Tier zum Übermenschen führt“, so ist diese Überwindung, dieser Übergang illusorisch, wenn man nicht von der Prämisse des Vorhandenseins zweier entgegengesetzten Naturen, zweier entgegengesetzten Welten ausgeht und statt dessen fortfährt, nichts als das „Leben“ in seinen verschiedenen Formen und Stärkegraden, die einzige Eigenschaft „Leben“ zu betrachten. Und heute scheint der „Rassismus“ in gewissen seiner Irrwendungen, die gewiß weder der höheren Idealität der deutschen Tradition noch jener der nationalsozialistischen Revolution entsprechen, gerade die schlechteste Erbschaft Nietzsches wieder aufzunehmen, wenn er darauf ausgeht, jeden Wert auf die biologische Basis zurückzuführen und in Leben, Blut und Rasse das Maß und die Vorbedingungen für jede geistige Form zu erblicken: er läuft so auf eine verfälschende Beschränkung hinaus, die ohne weiters den Weg zu einer wahren Überwindung und einer wahren Übermenschlichkeit versperrt.

Für uns dagegen gilt, was in allen großen Traditionen galt: daß das „Leben“ nicht Geist ist, und der Geist nicht „Leben“, daß aber der Geist dem „Leben“ die Form gibt; und daß, was im „Leben“ tatsächlich höheren und bezwingenden Ausdruck gewinnt, dies nicht vom „Leben“ herkommt, sondern vom Geiste, der durch das Leben oder vermittels des Lebens sich offenbart, d.h. von etwas Übernatürlichen. Hat man in diesem Sinne das wahre Zentrum erkannt, so ist die erste Vorbedingung zu jeder wahren Überwindung, daß man das Eigenbewußtsein, das „Ich“-Gefühl stufenweise vom Pole „Leben“ zum Pole „Geist“ hin führt.

Nun aber wirken heute die voluntaristischen, aktivistischen, irrationalistischen Tendenzen genau im entgegengesetzten Sinn: indem sie in jeder Weise das rein physische und „vitale“ Ich-Gefühl verstärken, verstärken sie gleichzeitig das Gefängnis des Ichs, führen sie zu einer Erstarrung, einem Auftrumpfen, einer verrohten und entgeistigten Auffassung des Willens und der Individualität, der Gesundheit und der Macht, was ebenso vielen Hemmnissen für die innere Emanzipation gleichkommt. Hier bleiben die Stromkreise geschlossen. Es fehlt der Bezugspunkt für das „Sichverwandeln“ des „Intensiv-Lebens“, des „Mehr-Lebens“ in ein „Mehr-als-Leben“. Der Übermensch reicht nicht über die „schöne bezwingende Bestie“ oder den „Dämon“ Dostojewskijs, diese Reduktion Nietzsches ins Absurde, hinaus. Hat die -innerlich -heraufbeschworene Intensität nicht die Möglichkeit, in etwas zu münden, so kann sie nur in einer übertriebenen, zerreißenden Spannung stattgeben, jener stummen Tragödie, die das „Titanische“ immer mit sich bringt.

Olympischist dagegen der wahre Typus des Übermenschen: eine ruhige Größe, die eine unwiderstehliche Überlegenheit zum Ausdruck bringt, etwas, was erschreckt und gleichzeitig zur Bewunderung hinreißt, indem es jäh die Empfindung einer vollkommen beherrschten, aber entladungsbereiten transzendenten Kraft auslöst, das wundervolle und bedrohliche Gefühl, das das Altertum stets mit dem Begriff des „numen“ verband. „Über-Leben“ – d.h. Geist, restlos verwirklichtes Ich in seiner übernatürlichen Erscheinungsform -welches alles durchdringt und absolut beherrscht, was bloß „Leben“ ist -dies ist das Wesen jenes Typus. Doch dieser Typus, der wahre Übermensch, läßt sich nicht auf eine Konstruktion des heutigen Denkens zurückführen. Qualitätsmerkmal einer Über-Rasse, Substanz dessen, was in der nordisch-dorischen Rasse das klassische Ideal der Form im heroisch-sakralen-hellenischen Kulturkreis war, erhielt sich immer in der Folge als Symbol in den herrschenden Aristokratien. Es gibt keine große Tradition des indogermanischen Altertums, die ihn nicht gekannt hätte. Die Tradition des „göttlichen Rechts“ der legitimen Könige, weil männlichen Träger einer Kraft von oben, ist der letzte Widerhall hiervon. Versteht man das plötzliche Wiederauftauchen dieses alten Begriffs in einer Welt, in der bereits alle großen Horizonte fehlten, in der es zu seiner Verkörperung außer einem verworrenen Verlangen nach Kraft und Freiheit nur die profanen und undurchsichtigen Mythen des Evolutionismus und der natürlichen Zuchtwahl gab, so versteht man auch die unsichtbare Geburt der Nietzsche Theorie vom Übermenschen, ihre Grenzen und den Weg, der über sie hinausführen kann.

2 Antworten to “Überwindung des Übermenschen”

  1. Brandherd Says:

    Evolas Ideen sind vor allem langweilig.

    Davila, in abgeänderter Form

    • Mcp Says:

      Evola langweilig? Tatsächlich? Ich fand und ich finde ihn spannend. Schon deshalb, weil er, wie Davila, jeder zeitgenössischen Denkform widerspricht. Was könnte langweiliger sein als das ewige Wiederkäuen vorgefasster Meinungen?

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