Ausgewählte Scholien II
Die Menschen, deren allgemeine Ideen interessant sind, sind ebenso selten wie jene, deren persönliche Mitteilungen des Interesses ermangeln.
Erotismus, Sinnlichkeit, Liebe sind, wenn sie nicht in ein und derselben Person konvergieren, vereinzelt nicht mehr als eine Krankheit, ein Laster, eine Albernheit.
Die „Ideale“ sind Symptome des verkappten Narzißmus. Die Pathologie des Egoismus reserviert ein Kapitel dem „Idealisten“.
Nur die konkrete und sinnliche Person, die wir lieben, ist mehr als unser maskiertes Ich.
Traurig wie eine Biographie.
Der Mensch ist eher zu heroischen Akten imstande als zu anständigen Gesten.
Dieses Jahrhundert versinkt langsam in einem Sumpf von Spermen und Scheiße.
Wenn er mit den gegenwärtigen Ereignissen hantieren wird, wird der Historiker der Zukunft Handschuhe tragen müssen.
Die Freiheit ist nicht unentbehrlich, weil der Mensch weiß, was er will und wer er ist, sondern damit er wisse, wer er ist und was er will.
Tyrannei ist heute ein Zustand offensichtlicher Knechtschaft und Freiheit ein Zustand heimlicher Knechtschaft. Dort unterdrückt die Gewalt das Individuum, hier unterdrückt es die Meinung.
In diesem Jahrhundert der umherziehenden Menschenmengen, die jeden glanzvollen Ort entweihen, ist die einzige Huldigung, die ein respektvoller Pilger einem verehrungswürdigen Heiligtum darbringen kann, die, es nicht zu besuchen.
Der Friede gedeiht nur unter sterbenden Völkern.
Unter der Sonne eiserner Hegemonien.
Die Demokratie feiert den Kult der Menschheit auf einer Pyramide von Schädeln.
Dem Kult des Geldes entkommen nur die, welche die Armut wählen, oder die, welche ihr Vermögen erben.
Das Erbe ist die edle Form des Reichtums.
Der Jugendliche ist stolz auf seine Jugend, als hätte dieses Privileg nicht selbst der größte Narr gehabt.
Wenige Menschen würden ihr Leben ertragen, wenn sie sich nicht als Opfer des Schicksals fühlten.
Die Gerechtigkeit Ungerechtigkeit zu nennen ist die beliebteste der Tröstungen.
Die Sinnlichkeit ist die immerwährende Möglichkeit, die Welt aus der Gefangenschaft ihrer Bedeutungslosigkeit zu befreien.
„Sexualleben“ ist ein Begriff, mit dem kein halbwegs feinfühliger Mensch seine Lieben bezeichnet. Nur der plumpe Zuschauer und der Fortschrittler machen ihn sich zu eigen.
Indem wir nicht immer vom Tod sprechen können ist unser ganzes Gerede trivial.
Reden wir nicht schlecht über den Nationalismus.
Ohne die nationalistische Virulenz würde über Europa und die Welt schon ein technisches, rationales, uniformes Imperium herrschen.
Rechnen wir dem Nationalismus mindestens zwei Jahrhunderte geistiger Spontanität, freien Ausdrucks der Volksseele, reicher historischer Mannigfaltigkeit zum Verdienst an.
Der Nationalismus war die letzte Verkrampfung des Individuums angesichts des grauen Todes, der seiner harrt.
Unter dem Vorwand der Arbeitsbeschaffung für den Hungernden verkauft der Fortschrittler die nutzlosen Artefakte, die er herstellt.
Die Armen sind die Ausrede des Industrialismus, um den Reichen zu bereichern.
Der Stolz eines Chateaubriand irritiert nur diejenigen, für die die Existenz von Menschen mit Anrecht auf Stolz demütigend ist.
Ersetzen wir all die Definitionen der „Menschenwürde“, die lediglich extatische Stoßgebete sind, durch eine einfache und schlichte: alles langsam tun.
Der Satz muß die Härte des Steins und das Zittern des Zweiges haben.
Die Regierung müßte immer den Alten anvertraut werden; nicht weil die Unfähigkeit mit den Jahren nicht zunehmen würde, sondern weil sie zunimmt.
Die Einsamkeit ist unerträglich, wenn der Einsame nicht transzendenten Evidenzen anhängt.
Wenn die Wahrheit stirbt, betäubt der Mensch seine Angst mit dem Verwesungsgeruch der menschlichen Menge.
Die krönenden Tätigkeiten des Geistes erscheinen dem Dummkopf immer parasitär.
Der zivilisatorische Rang einer Gesellschaft läßt sich an der Anzahl von Parasiten messen, die sie duldet.
Die Zivilisation ist nicht eine endlose Folge von Erfindungen, sondern die Aufgabe, den Fortbestand gewisser Dinge zu sichern.
Jede Regel ist der Kaprice vorzuziehen.
Die Seele ohne Disziplin löst sich in einer larvenhaften Häßlichkeit auf.
Jede Rebellion gegen die Ordnung des Menschen ist edel, solange sie nicht Widerspenstigkeit gegen die Ordnung der Welt überdeckt.
Ein einziges Wesen kann dir genügen.
Aber das dir niemals der Mensch genüge.
Das Verbrechen, das zu begehen man sich anschickt, ist manchmal so furchtbar, daß der Vorwand der Nation nicht ausreicht und man sich auf die Menschheit berufen muß.
Die Leistungsfähigkeit des Individuums ist weniger eine Tugend als eine Bedrohung für seine Mitmenschen.
Die einzige Garantie für unsere Freiheit besteht in den Barrikaden, die die anarchische Seite der Welt gegen den Imperialismus der Vernunft errichtet.
Die Apologetik muß Skeptizismus und Poesie vereinen.
Skeptizismus, um Götzen zu strangulieren, Poesie, um Seelen zu verführen.
Die Menschheit schickt sich leichter ins Vermeidliche als ins Unvermeidliche.
Es gibt keine universal gültigen Deutungen.
Eine religiöse Deutung ist grotesk in einem profanen Kontext, so wie eine profane Deutung grotesk ist in einem religiösen Kontext.
Dort sind nur wissenschaftliche Kategorien brauchbar; hier ist alles Zeichen, Symbol, Sakrament.
Der Regen ist für den, der anbetet, göttlicher Segen, der auf das Wunder des weizens fällt.
Die Gewinnsucht des Händlers bestürzt mich weniger als die Ernsthaftigkeit, mit der er sie befriedigt.
Wer Verlangen danach verspürt, seine Beschränktheit zu messen, der zähle die Anzahl der Dinge, die ihm einleuchtend erscheinen.
Die Zustimmung des Volkes ist ein Anzeichen der Legitimität, aber nicht ihre Ursache.
In der Auseinandersetzung über die Legitimität der Macht zählen weder ihr Ursprung im Votum noch ihr Ursprung in der Gewalt.
Legitim ist die Macht, die den Auftrag erfüllt, den ihr die vitalen und ethischen Erfordernisse einer Gesellschaft erteilen.
Die Aristokratien sind die normalen, die Demokratien die Fehlgeburten der Geschichte.
Schon genügt es nicht mehr, daß der Staatsbürger sich in sein Schicksal ergibt, der moderne Staat braucht Komplizen.
Das Proletariat taucht auf, wenn das gewöhnliche Volk sich in eine Klasse verwandelt, die die Wertmaßstäbe des Bürgertums übernimmt, ohne bürgerliche Güter zu besitzen.
Der Mensch verzweifelt manchmal mit Würde, aber selten hofft er mit Intelligenz.
Flucht schützt nicht vor der Langeweile.
Wir müssen, um uns zu retten, diese schwammige und träge Bestie zähmen.
In der innerlich angenommenen Langeweile keimen die edelsten Dinge.
Das einzige Mittel gegen den Neid in den niedrigen Seelen ist die Eitelkeit, die sie glauben läßt, daß sie nichts zu beneiden haben.
Die Geschichte ist nicht der Ort, wo die Antagonismen sich auflösen, sondern wo sie vergessen werden.
Die irdischen Siege sind nicht optimistische dialektische Synthesen, sondern tragisches empirisches Verschwinden eines der Elemente des vorhergehenden Antagonismus.
Eine gerechte Gesellschaft wäre uninteressant.
Die Diskrepanz zwischen dem Individuum und dem Platz, den es einnimmt, macht die Geschichte interessant.
Mancher berühmte Mann trägt mitunter so schwachsinnige Ideen vor, daß wir nicht zu glauben wagen, wir verstünden.
Der Ungläubige stellt sich vor, das die Religion Lösungen zu geben versucht, während der Gläubige weiß, daß sie nur Rätsel zu vermehren verspricht.